Komm aus dem Gefängnis frei. Jetzt.
Des tristen Alltags ewig trostloser Trott hat durchaus das Potenzial, sich zum gruseligen Gefängnis zu entwickeln. Und zwar zu jener perfiden Sorte Gefängnis, die uns unserer Freiheit beraubt, ohne dass wir sonderlich Notiz davon nehmen würden. Ein Gefängnis, dessen hohe Mauern, dicke Wände und stachelige Zäune uns überall lückenlos umgeben und uns dennoch die fadenscheinig trügerische Illusion des freien Willens lassen. Tatsächlich sitzen wir alle mehr oder weniger in einem solchen Gefängnis fest. Das kann
- eine total beschissene Wohnsituation sein,
- eine festgefahrene Partnerschaft,
- ein schwieriger Job,
- stressige familiäre Zwangsrituale,
- gesellschaftlich gefordertes Konformitätsverhalten,
oder was man hier sonst noch so alles an knebelnden und bindenden Situationen der individuellen Unfreiheit aufzählen kann. Ich bin sicher, diese Liste könnte viele Dutzend Seiten füllen. Und zwar in einer 5Punkt Schrift im Duplex Druck. Da kann das Gebot der Stunde doch nur lauten, sich endlich aus diesem Gefängnis zu befreien, die so heimlich, still und leise an Körper und Seele hochgewachsenen Ketten zu sprengen und das pralle pure Leben endlich wieder lustvoll zu umarmen. Warum machen wir das eigentlich nicht? Ganz einfach. Weil wir Angst vor der eigenen Courage, vor dem Wagnis der Freiheit und vor dem Risiko des Abenteuers haben. So bleiben wir lieber still und klaglos im beschützenden Gefängnis sitzen, anstatt Fluchtpläne zu schmieden. Aus diesem Grund möchte ich heute, da das neue Jahr sein noch schlaftrunkenes Haupt erhebt, die gesammelte WUNDERBLOG-Leserschaft dazu ermutigen und dafür gewinnen, wenigstens mal ein ganz kleines Bisschen an den Gitterstäben des eigenen Gefängnisses zu feilen. Es muss ja nicht gleich die spektakuläre Flucht von Alcatraz sein. Für den Anfang würden es sicher auch ein paar zusätzliche Freigänge tun, um auf den Geschmack der großen weiten Welt zu kommen. Alles, was man dazu braucht, ist eine maßgeschneiderte „Komm aus dem Gefängnis frei“ Karte. Und den Ruck, den man sich natürlich erst mal geben muss.
Erste Schritte aus dem Gefängnis
Um die bislang so hinterlistig unsichtbaren Gefängnismauern für Herz und Auge sichtbar zu machen, genügt meist schon eine persönliche Inventur. Hier gilt es, den ermüdenden Trott zu entlarven und in einen flotten Schritt zu verwandeln. Also flugs zu Papier und Bleistift gegriffen und unter Ausschluss der Öffentlichkeit den folgenden Satzergänzungstest bearbeitet:
- Ich bin mit meiner Wohnsituation unzufrieden, weil…
- Ich würde mich in meiner Wohnung viel wohler fühlen, wenn…
- Bei einem Umzug würde ich allergrößten Wert darauf legen, dass…
- Meine Partnerschaft ist nicht mehr so erfüllend wie früher, weil…
- Das wunderbare Gefühl zwischen meinem Partner und mir ließe sich gewiss dadurch wiederbeleben, dass…
- Obwohl ich durchaus schon daran gedacht habe, die Partnerschaft zu beenden, tue ich es nicht, denn…
- Mein Job quält mich, weil…
- Mein absoluter Traumjob läßt sich mit den folgenden Worten beschreiben:…
- Ich habe mich bislang noch nicht zu einer beruflichen Neuorientierung durchringen können, denn…
- „Familie“ ist bei mir ein heißes Thema, weil…
- Meine Familiensituation wäre deutlich entspannter und freundlicher, wenn…
- Zu Verwandten, die ich nicht leiden kann, halte ich dennoch Kontakt, weil…
- Mir ist es früher einmal so richtig rundum gut gegangen, als ich…
- Mein jetziges Leben ist öde und langweilig, denn…
- Wenn ich sicher sein könnte, nicht erwischt zu werden, dann würde ich sofort…
- Wenn ich mich nicht vor dem Gerede der Leute fürchten müsste, hätte ich schon längst…
- Wenn ich keinerlei Rücksicht auf Konventionen zu nehmen hätte, könnte ich…
- Wenn ich so könnte wie ich wollte und wenn Geld keine Rolle spielen würde, dann…
- Mein großes Vorbild ist _________________ weil…
- Was ich jetzt mehr als alles andere in meinem Leben brauche und will ist…
- Was mich und mein Leben umgehend und sofort verlassen muss ist…
- Wenn ich eine Sache in meinem Leben ungeschehen machen könnte, dann wäre das…
Mit ein bisschen Glück haben diese „Selbstgespräche“ schon dazu beigetragen, die ganz persönlichen „wunden Punkte“ des eigenen Lebens zu erkennen und zu benennen. Damit ist der erste Schritt bereits getan. Jetzt gilt es, sehenden Auges in die eigenen Abgründe zu blicken, die Probleme ohne Schuld- und Schamgefühle anzuschauen und Mut für das geplante Entrinnen aus der erdrückend bequemen „Komfortzone“ zu schöpfen. Hier helfen die folgenden vier Fragen weiter:
- Wenn ich __________ tatsächlich durchziehen würde, was könnte mir dann im allerschlimmsten Fall passieren?
- Und wäre das dann tatsächlich so schlimm oder denke ich das nur, weil ich allzu furchtsam oder selbstunsicher bin?
- Womit würde mein Mut im besten Fall belohnt werden, wenn ich es tatsächlich wage, konsequent meinem Herzen zu folgen?
- Was wäre der allerkleinste Anfang, den ich jetzt sofort ohne Schwierigkeiten machen kann und will?
Natürlich kann man das alles auch viel poetischer, ja, lyrischer ausdrücken. So wie es Herrmann Hesse in seinem viel zitierten Werk „Stufen“ getan hat:
Stufen
von Hermann Hesse
Wie jede Blüte welkt und jede Jugend
Dem Alter weicht, blüht jede Lebensstufe,
Blüht jede Weisheit auch und jede Tugend
Zu ihrer Zeit und darf nicht ewig dauern.
Es muß das Herz bei jedem Lebensrufe
Bereit zum Abschied sein und Neubeginne,
Um sich in Tapferkeit und ohne Trauern
In andre, neue Bindungen zu geben.
Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne,
Der uns beschützt und der uns hilft, zu leben.Wir sollen heiter Raum um Raum durchschreiten,
An keinem wie an einer Heimat hängen,
Der Weltgeist will nicht fesseln uns und engen,
Er will uns Stuf‘ um Stufe heben, weiten.
Kaum sind wir heimisch einem Lebenskreise
Und traulich eingewohnt, so droht Erschlaffen,
Nur wer bereit zu Aufbruch ist und Reise,
Mag lähmender Gewöhnung sich entraffen.Es wird vielleicht auch noch die Todesstunde
Uns neuen Räumen jung entgegensenden,
Des Lebens Ruf an uns wird niemals enden …
Wohlan denn, Herz, nimm Abschied und gesunde!
Statt einen ganzen Sack mit hirn- und sinnlosen „guten Vorsätzen“ für das neue Jahr vollzustopfen, möchte ich dazu anspornen, alsbald in einer stillen Stunde die oben vorgeschlagenen Denkfiguren mit persönlichen Inhalten zu füllen und ehrlich über deren Sinn und Konsequenzen zu meditieren. Dann hat das neue Jahr tatsächlich die Chance, auch ein gutes neues Jahr zu werden. Ein Jahr, in dem man aus dem Gefängnis frei kommt. Ein Jahr, in dem man endlich mal wieder das eigene Leben wirklich in die eigene Hand nimmt. Ein Jahr, in dem man sich die Freiheit zurückholt.
– Carina Collany –
Das Beitragsfoto wurde von Daniel Deppe aufgenommen.
Eine Antwort
[…] Umzug ist vollbracht. Ein Job ist klargemacht. Die Freiheit ist ganz neu und duftet mir nach […]