Woraus der Regenbogen besteht

Die junge Frau ging allein auf der Insel spazieren. Die schlichte herbe Schönheit der spärlichen Vegetation in ihren gedeckten Farben und die überall aufragenden kargen Felsen verliehen der Landschaft etwas angenehm Natürliches und Unberührtes. Die junge Frau genoss es, in dieser Landschaft, die wegen ihrer wenig spektakulären Anblicke von den alles schändenden Touristenhorden gemieden wurde, in Ruhe ihren Gedanken nachhängen zu können.

Als sie gerade zwischen zwei größeren dunkelgrauen Felsen einen kleinen Bach entdeckt hatte, steuerte sie vergnügt darauf zu, um ihre von dem langen Spaziergang ermüdeten Füße zu erfrischen. Der kleine Bach war wie geschaffen für die kleine Rast, und die junge Frau zog sich Wanderschuhe und Socken aus, um das kühlende Wasser zu genießen.

Als sie im Wasser stand und sich mehr denn je im Einklang mit der Natur fühlte, fing es plötzlich aus dem strahlend blauen Himmel heraus zu regnen an. Verblüfft von diesem unerklärlichen Wetterumschwung schaute die junge Frau nach oben und gewahrte einen besonders großen und schönen Regenbogen, der sich zwischen Sonnenstrahlen und Regentropfen aufzubauen begann. Dieser Anblick erfüllte ihre Augen und ihr Herz.

Da bemerkte sie plötzlich, dass die eine Seite des Regenbogens zu ihr herabzukommen schien. Langsam, aber stetig wuchs der Regenbogen auf sie zu und landete schließlich vor der völlig überraschten jungen Frau mit dem angenehmen Geräusch, das weißer feiner Kies unter sommerlich nackten Füßen macht. Da stand sie nun, mit den Füßen im Bach, direkt vor dem Ende des Regenbogens, welches sich in das Ufer hinabgesenkt hatte.

Voll ungläubigen Staunens blickte die junge Frau in das farbenprächtige Funkeln und Glitzern vor ihr. Und plötzlich wurde ihr eines klar: Nicht der Mensch kann das Ende des Regenbogens finden, sondern das Ende des Regenbogens findet den Menschen, wenn die Zeit dafür gekommen ist. Sie spürte eine tiefe Dankbarkeit und gab dem Verlangen nach, ihre Hand nach dem herrlichen Schauspiel auszustrecken. Als sie den Regenbogen berührte, spürte sie, wie die unendliche Kraft ungezählter Edelsteine auf sie überging.

Überwältigt von diesem Gefühl steckte sie ihre Hand noch tiefer hinein und begriff, dass ein Regenbogen nicht aus Wasser, sondern aus einem Meer von herrlichen funkelnden Edelsteinen besteht: Lupenreine weiße Diamanten bilden die Begrenzung um feuerroten Rubin, tiefblauen Spinell, zartgelben Citrill, meergrünen Smaragd und herrlichen violetten Amethyst. Wie gut, dass so etwas unendlich kostbares nicht ausgebeutet werden kann, dachte die junge Frau, während sie die verschwenderisch dargebotene magische Kraft bereitwillig und mit weit geöffneten Armen in sich aufnahm. Sie hätte für den Rest ihres Lebens so dastehen mögen, ihre Füße in dem erfrischend umschmeichelnden Bach und ihre Arme in dem Ende des Regenbogens, dessen herrliche Edelsteine in den Strahlen der Sonne in atemberaubender Schönheit mit glühendem Feuer erfüllt wurden.

Doch so rasch, wie der seltsame Regen begonnen hatte, hörte er auch wieder auf und der Regenbogen wurde schwächer und schwächer. „Geh nicht fort“, sagte die junge Frau verzweifelt. „Ich muss gehen“, sagte der Regenbogen, „aber wenn Du wirklich dafür bereit bist, dann kannst Du mit mir kommen“.

Die junge Frau war mehr als bereit dafür. Außer ihrer grenzenlosen Liebe zu der unberührbaren Schönheit der Natur und ihrer Ehrfurcht vor jeder Art des Lebens war ihr nach all den schweren Schicksalsschlägen der letzten Zeit nichts geblieben, wofür es sich gelohnt hätte, zu bleiben. „Nimm mich mit“, sagte sie daher ohne Zögern zu der wundervollen Erscheinung.

Da begann ihr Körper, sich nach und nach in kleine, hell leuchtende Sterne aufzulösen, die sich in vollendeter Harmonie in das Ende des Regenbogens einfügten. Der letzte Gedanke, den die junge Frau hatte, war von einem unendlich glücklichen Gefühl der Erlösung und des Friedens erfüllt. Als das Ende des Regenbogens die junge Frau völlig in sich aufgenommen hatte, hörte der Regen endgültig auf und der Regenbogen zog sich mit der gleichen majestätischen Kraft zurück, mit der er gekommen war.

Als am nächsten Tag zwei Wanderer die gleiche Stelle passierten, fanden sie am Ufer des Baches ein Paar Socken und ein Paar Wanderschuhe, ordentlich zusammengelegt und hingestellt. Sie wunderten sich sehr, warum jemand in einer so öden und gottverlassenen Gegend plötzlich beschlossen haben mag, ohne Schuhe und Strümpfe weiterzuziehen.

Foto: Daniel Deppe

Foto: Daniel Deppe

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