Erweiterter Suizid – Wenn Selbstmörder nicht alleine gehen
Menschen, die sich das Leben nehmen wollen, sind entweder sehr krank, sehr verzweifelt oder sehr verwirrt. In aller Regel wird dann diese letzte aller möglichen Handlungen wahlweise in einsamer Abgeschiedenheit oder in der mitfühlenden Anwesenheit lieber Freunde oder begleitender Familienangehöriger vollzogen. Das kommt auf die individuelle Motivationslage und auf den subjektiven Leidensdruck jener Person an, die ihrer irdischen Existenz ein für alle Mal Ende setzen will.
Bisweilen denkt der Selbstmordkandidat im Rahmen seiner Planung aber auch über die Grenzen des eigenen Daseins hinaus. Dann sieht er absichtsvoll vor, andere Menschen mit in den Tod zu nehmen. Diese Variante des Selbstmordes, in der es mehr als nur das eigene Todesopfer geben soll, wird als
Erweiterter Suizid
bezeichnet. Der Terminus „erweitert“ will zum Ausdruck bringen, dass sich die Anzahl der Todesopfer um genau jenen Personenkreis erweitert, den der Selbstmörder auf dem letzten Weg mit sich nehmen will.
Was aber bewegt einen Selbstmörder dazu, die Zahl der Todesopfer in dieser Form um Menschen zu erweitern, die ihrerseits zu diesem Zeitpunkt weder sterben mussten noch sterben wollten? Auf diese Frage gibt die Psychologie einige bedenkenswürdige Antworten.
Grund 1: Rache und Hass
Nach dem Motto „In die Hölle gehst Du mit mir“ beabsichtigt der Selbstmörder, jene Personen, die gefühlt für seine aussichtslose Lage verantwortlich sind, mit in den eigenen Tod zu reißen. Das kann der Partner sein, der kaltherzig Schluss gemacht oder dem Gatten die berühmten Hörner aufgesetzt hat. Das können der Arzt, der Anwalt oder der Arbeitsamtsberater sein, deren desinteressierte Fahrlässigkeit vernichtendes Leiden begründet hat. Das können die Mitschüler sein, die den Verzweifelten über lange Zeit kräftig gemobbt haben. Das können Arbeitskollegen sein, die bei den Beförderungen immer bevorzugt werden. Das kann eine Gruppe ausländischer Reisegäste sein, in deren Heimatland mal schlechte Erfahrungen gesammelt werden mussten. Das kann sogar eine zufällig entstandene Gruppe von Personen sein, die kaum etwas oder gar nichts gemeinsam haben, als das sie zum falschen Zeitpunkt am falschen Ort sind, sofern der Selbstmörder einen generalisierten Hass auf die gesamte Menschheit hegt. In diese Kategorie „Rache und Hass“ fallen die so genannten Beziehungstaten (Selbstmörder und Opfer kennen sich) sowie die mehr oder weniger umfänglichen Amokläufe, bei denen der Selbstmörder erst so viele Menschen wie möglich kaltblütig umbringt, um sich sofort anschließend selbst zu richten.
Grund 2: Angst vorm Alleinsein
So aufrichtig der Todeswunsch des Selbstmörders auch gefühlt sein mag – niemand weiß so wirklich, was einen da auf der anderen Seite erwartet. Da kann es eine gewisse Beruhigung sein, einen Reisegefährten an seiner Seite zu haben, wenn man den Fährmann Charon für das letzte „Hol über!“ zu sich ruft. Selbstmörder, die so empfinden, suchen sich einen Menschen, den sie im Tode und darüber hinaus bei sich wissen möchten. Ob dieser auserkorene Gefährte das nun will oder nicht. Im Zweifelsfall und in absolut ausweglosen Situationen kann es natürlich auch einen völlig Fremden (oder auch eine Gruppe völlig Fremder) treffen, denen den Selbstmörder zuvor noch nie begegnet war. Unter bestimmten Bedingungen (oder wenn die Umstände nichts anderes erlauben) reißt dann ein einzelner Lebensmüder möglicher Weise hunderte unschuldiger Menschen mit sich in das ewige Dunkel.
Grund 3: Vor- und Fürsorge
So absurd es auch klingen mag: Viele Selbstmörder mögen ihre Lieben nach dem eigenen Ableben nicht alleine und auf sich selbst gestellt in dieser kalten grausamen Welt zurücklassen. Dann passiert es zum Beispiel, dass eine Mutter ihre kleinen Kinder mit in den Tod nimmt, oder ein Ehemann seine Ehefrau, oder ein Jugendlicher seine jüngeren Geschwister. Diese Art Selbstmörder möchte den Hinterbliebenen schlichtweg nicht zumuten, dann irgendwie ohne den gewohnten Beistand klarkommen zu müssen. Da erscheint es wesentlich fürsorglicher, die potenziell Zurückgelassenen gleich mit in den friedlichen und ruhigen Tod zu nehmen, damit diese sich nicht, alleine im Regen stehend, den Widrigkeiten des Lebens stellen müssen.
Das ist doch nicht normal!
Nun ja – Normalität ist, wie immer, relativ. Für psychisch unauffällige und unbeschwerte Menschen, die gerne leben und an ihrem Leben hängen, sind die obigen Ausführungen mit Sicherheit nur schwerlich nachvollziehbar, wenn überhaupt. Dabei wird allerdings gerne außer Acht gelassen, dass die Absicht, dem eigenen Leben in handverlesener Gesellschaft ein Ende zu setzen, immer auch einen absoluten seelischen Ausnahmezustand anzeigt. Wer gepeinigt und verzweifelt und hoffnungslos genug ist, um den aktiv herbeigeführten Tod als einzig erstrebenswerte Lösung seines individuellen Lebenskampfes anzusehen, der ist ohnehin schon längst jenseits allen „normalen“ Verhaltens und Erlebens angekommen. Ganz egal, welche schweren Krankheiten oder vernichtende Schicksalsschläge oder umnachtete Gedankengänge dafür verantwortlich zeichnen.
Der berühmte Hamlet-Monolog ist übrigens hervorragend dazu geeignet, einen mitfühlenden Blick in die psychische Zerrissenheit von selbstmordgefährdeten Menschen zu werfen.
– Carina Collany –
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