Stricken als Meditationsübung
Wenn die Kamine wieder wärmend knistern, aromatisch vor sich hin dampfende Heißgetränke aus Lieblingstassen genossen werden, und die Tage rasch zu langen Abenden runter dimmen, dann wird es allerhöchste Zeit für ein gemütlich kontemplatives Hobby. Hier hat sich, einmal wieder, der Phoenix in Form frisch erwachter populärer Woll-Lust aus der Asche erhoben. Schon lange war Stricken nicht mehr so beliebt wie heute.
Auch ich habe diesen neuen Trend zum alten Nadelspiel mit Freude begrüßt. Ich gestehe es gleich: Gut stricken kann ich nicht wirklich, aber ich mache es trotzdem von Herzen gerne. Denn mir ist nicht primär an dem Ergebnis meiner wolligen Strebungen gelegen, sondern mehr an der besinnlichen Charakteristik des entschleunigten Herstellungsprozesses. Aus diesem Grund verarbeite ich bevorzugt aufwändige Effektgarne und verstricke diese zu exklusiven und garantiert einmaligen Schals, die inzwischen sogar über die Pforten meines eigenen Winterkleiderschranks hinaus ihre treuen Liebhaberinnen und enthusiastischen Trägerinnen gefunden haben. Dazu muss ich noch nicht einmal viel Geld in die Hand nehmen, sondern nur geduldig abwarten, wann in meinem Lieblingswollgeschäft saisonale Lagerbereinigungen zu purzelnden Preisen und sagenhaften Sonderangeboten führen. Wer antizyklisch strickt, spart reichlich Euronen und kommt dennoch in den Genuss farbenfroher Qualitätsstrickgarne namhafter Hersteller. Außerdem ist bei mir, wie ich bereits erwähnte, der Weg das Ziel.
Am liebsten mag ich Strickwolle, die mit einem eigenen unregelmäßigen Farbverlauf und stark variierender Garnstärke vom Knäuel läuft. Denn dadurch entstehen interessante Strukturen und bunte Muster von ganz allein, während kleinere Unregelmäßigkeiten der von mir zu haltenden Fadenspannung komplett kaschiert werden. Auch beim Anschlagen der Maschen muss ich mich an keine Vorgaben halten. Frei nach Gefühl nehme ich so viele Maschen auf, wie es sich gerade Pi mal Daumen ergibt, und schon habe ich die optimale Breite meines neuen Experimental-Schals aus dem Bauch heraus definiert. Die besten Strukturmuster sind bei solch kapriziösen Garnen immer die einfachsten; meine Favoriten sind „eins rechts, eins links“ sowie das legendäre „Schummelpatent“. Damit hat der Schal auf beiden Seiten die gleiche Optik und baut außerdem ein gewisses Volumen auf, was beim modischen Einsatz in der kalten Jahreszeit allen empfindsamen Hälsen höchst willkommen ist.
Einem spielerischen Schal langsam beim Wachsen zuzusehen, erhebt Kreativität zur Entspannungstechnik. Denn mit richtig wilder Wolle seufzt die Strickerin nicht unter dem Joch wochenlanger ermüdend eintöniger Nadelklapperei, sondern freut sich auf jede neue Wendung, die die Optik mit jeder neuen Masche nimmt. Man (also frau) möchte dann immer wissen, wie es weitergeht, da hochwertiges Effektgarn stets den Zauber und die Magie eines spannenden Fortsetzungsromans liefert. Da nimmt jede neue Reihe eine neue Wendung. Und mit ein wenig Glück enthüllt sich am Ende dennoch ein übergreifendes Gesamtmuster. So, wie man auch in den Wolken am Himmel mit etwas Phantasie konkrete Gestalten entdecken kann.
Übrigens: Meine Woll-Tollwut hat dieses Jahr zu einer schön anzuschauenden heimischen Überproduktion geführt, mit der ich die ehrenamtlichen Veranstalterinnen eines örtlichen Weihnachts-Wohltätigkeitsbasars als spendable Gönnerin richtig glücklich machen konnte. Da wurde dem beachtlichen Verkaufserfolg meiner extravaganten Unikate nur so hinterhergestaunt. So habe am Ende nicht nur ich von meiner produktiven Meditationsübung profitiert.
An dieser Stelle noch eine dringende Bitte an alle Wollies: Selbst gestrickte Schals immer (!!!) kalt und sanft und schonend mit der Hand und mit geeigneten Waschmitteln waschen. Dann währt die warme Wonne deutlich länger!
– Carina Collany –
Der Spaßminister warnt: Stricken kann und wird süchtig machen 😉