Kreative Grauzonen im Darwinismus
Der Darwinismus lehrt uns im Wesentlichen, dass die Schlauen und die Starken im Überlebenskampf deutlich bessere Karten haben als diejenigen, die im Oberstübchen und auf der Brust schwach sind. Doch was macht einen starken und schlauen Menschen eigentlich aus? Zu dieser fast schon philosophischen Frage können dem vielseitigen Denker zahlreiche Faktoren in den Sinn kommen. Ein wesentlicher Parameter der „Fitness“ im Sinne des Darwinismus ist zweifelsohne ein kräftiger und gesunder Körper. Darum wäre es als logische Konsequenz anzusehen, dass die Evolution recht gezielt solche Menschen „herauszüchtet“, die mit ihrem Körper so achtsam und so vorsichtig und so pfleglich wie nur irgend möglich umgehen. Auf der evolutionären Strecke sollten dagegen all jene bleiben, die Raubbau an sich selbst betreiben, Gefahren suchen und kein Risiko scheuen. Tatsächlich enthüllt der kritische Blick auf unsere Gesellschaft ganz andere Fakten. Denn hier wimmelt es nur so von Leuten, die ihre körperliche und geistige Gesundheit kräftig mit Füßen treten und im Allgemeinen nichts unversucht lassen, um den eigenen Organismus systematisch zu ruinieren. Geht man davon aus, dass der Darwinismus in seiner Kernaussage Recht hat, muss die Frage erlaubt sein, warum es nach wie vor und mehr denn je Zeitgenossen gibt, die sich einen Dreck um ihr psychisches und physisches Wohl scheren, und die dennoch noch nicht ausgestorben sind. Oder provokanter formuliert: Warum überleben hier und heute neben den Starken und den Schlauen auch die umfänglich Schwächelnden ohne erkennbaren Selektionsdruck?
Darwinismus, der im Verborgenen agiert
Ich bin grundsätzlich der Meinung, dass (über)lebensrelevante Merkmale beim Menschen immer das aufmerksame Wohlwollen des Darwinismus genießen. Gleichzeitig gehe ich davon aus, dass nicht alle diese bevorzugenden Merkmale auch gleichzeitig augen- oder sinnfällig sein müssen. Schließlich kann es irgend eine latente Eigenschaft sein, die sonst gar nicht auffällt, und deren große Stunde erst unter ganz bestimmten Umweltbedingungen schlägt. Oder eine Eigenschaft, die vordergründig keinen Sinn zu machen scheint, und die ihre positiven Wirkungen lediglich in seltenen Ausnahmesituationen oder bei plötzlichen radikalen Änderungen der Lebensumstände entfaltet. In diese Kategorie könnten Verhaltensweisen einzuordnen sein, die dem außenstehenden Beobachter nutzlos bis selbstschädigend erscheinen, die aber dennoch einen potenziellen Selektionsvorteil in sich tragen. Die Merkmalsträger würden damit einen zwar exotischen, aber gleichwohl wesentlichen und wichtigen Beitrag zum Genpool beitragen. Und genau darum würde der Darwinismus sie nicht ausmerzen, sondern als stille Reserve über den ganzen weiten Weg der Evolution „mitschleifen“. Nur für den Fall, dass eine gewisse Gewissenlosigkeit im Umgang mit sich selbst irgendwann einmal das Überleben der Menschheit sichern könnte. Man weiß so etwas ja nie, und Pferde hat man auch schon vor der Apotheke kotzen sehen.
Greift Darwinismus als Konzept heute überhaupt noch?
Grundsätzlich kann sich Darwinismus nur dort auswirken, wo es einen Selektionsdruck, wo es Wettbewerb oder wo es feindliche Lebensräume gibt. In einer Gesellschaft, die jedem ihrer Mitglieder immer und überall ohne Ansehen der Person immer alles im Überfluss zur Verfügung stellt, was gebraucht und gewünscht wird, muss sich niemand gegen den andern behaupten. In diesem fiktiven Garten Eden gäbe es keine Bevorzugungen von Reichtum, Schönheit und Macht, alle Menschen wäre gleich und niemand müsste hungern oder frieren. Diese Vorstellung von gesellschaftlicher und sozialer Vollkommenheit würde dem Darwinismus sofort jeglichen Nährboden entziehen. Allerdings sind die Menschen schon seit längerer Zeit ein für alle Mal aus dem Paradies vertrieben worden. Und deshalb wird es immer eine Rolle spielen, wer man ist, was man hat und was man kann. Buchstäblich ideale Bedingungen für eine rücksichtslose Ellenbogengesellschaft, die im Kampf um immer knapper werdende Ressourcen immer aggressiver agiert. Wer da erst einmal am Boden liegt, der bleibt auch liegen. Es sei denn, er hätte trotz allem noch ein evolutionäres As im Ärmel; eine Trumpfkarte im Darwinismus Skat sozusagen. Und das könnte wirklich alles Mögliche sein. Vielleicht sogar die Fähigkeit, sich ausschließlich von Alkohol und Salzlecksteinen zu ernähren, ohne dabei Schaden zu nehmen.
Fazit
Wenn Sie, werte Leserin und werter Leser, irgend eine ausgefallene oder gar als ungesund geschmähte Eigenschaft in Ihrem normalen Verhaltensrepertoire aufweisen, dann sollten Sie sich einmal fragen, unter welchen Umständen Ihnen genau diese Eigenart unschätzbare Vorteile liefern könnte. Gut möglich, dass Sie bei dieser etwas anderen und wohlwollend pragmatischen Sichtweise auf Ihr Verhalten und Erleben wertvolle Schätze heben können, um die man Sie am Tage X glühend beneiden wird. Denn:
Nichts ist notwendigerweise das, was es zu sein scheint.
(Wittgenstein)
– Carina Collany –
Das Beitragsbild stammt aus dem flickr-Album „Maxipark Hamm“ von Daniel Deppe.
…und für die ganz Harten im Garten gibt es ja dann immer noch den Darwin-Award. Der sorgt schon dafür, dass alle, die wirklich zu dumm sind, um aus dem Bus zu gucken, vom Weitergeben ihrer bescheuerten Gene ganz sicher ausgeschlossen sind 😉