Religiosität garantiert kein Erbarmen
Ein Mensch, der seine persönliche Religiosität lebt, glaubt zumeist an einen Gott oder an mehrere Götter oder an irgend ein anderes höheres Wesen. Diesen verehrten Mächten werden dann potenzielle Handlungsmöglichkeiten unterstellt, die jenen der gewöhnlich Sterblichen wahrhaft kosmisch überlegen sind. Darum versucht der Gläubige mit den Mitteln seiner ganz speziellen Religiosität, die von ihm angebetete Instanz milde zu stimmen, gütig gewogen zu halten oder sogar dazu zu bewegen, geäußerte Wünsche zu erfüllen. Selbstverständlich gehört zur Religiosität auch oft die Auffassung, dass die so demütig Verehrten auch ganz aktiv Schmerz und Leid von ihren treuen Gefolgsleuten abhalten würden. Letztere Hoffnung wird allerdings leider meist nicht erfüllt. Dazu seien mir heute trotz (oder gerade wegen) des besinnlichen Weihnachtstages ein paar private Gedanken gestattet.
Religiosität in Nepal
Die Nepalesen sind ihrer bevorzugten Religiosität nach zumeist Buddhisten. Dennoch verschmähen Nepalesen auch andere höhere Wesen nicht, sofern ihnen deren Wohlwollen erstrebenswert erscheint. Da kann es auch schon mal beobachtet werden, das ein primär dem Buddhismus verhafteter Nepalese eifrig in seiner zerlesenen Bibel blättert. Zwei wohlgesonnene Himmelsmächte sind immerhin doppelt so viele wie eine alleine, und schließlich man weiß ja nie. Insoweit könnte man Nepalesen mit ihrem durchaus dehnfähigen Konzept alltäglich praktizierter Religiosität als perfekt gerüstet betrachten. Dennoch hat diese breit aufgestellte freundliche Zuwendung zum weltoffen Göttlichen nichts genutzt. Nepal wurde im April 2015 von einem verheerenden Erdbeben heimgesucht, das fast 10.000 Menschen umbrachte. Und die Millionen Nepalesen, welche diese Naturkatastrophe mehr oder weniger schwer verletzt überlebten, verloren ihre Häuser, ihr Hab und Gut und ihr Obdach. Da war die Feststellung, noch mal mit dem Leben davongekommen zu sein, objektiv betrachtet gewiss kein übermäßiger Trost. Dennoch könnte man, eine tiefe Religiosität vorausgesetzt, zu dieser Haltung gelangen. Nur hält das leider keiner weiteren Belastungsprüfung stand. Denn diejenigen Nepalesen, die dem Tod damals gerade noch so von der Schippe gesprungen sind, sehen heute einem qualvollen Tod durch Erfrieren, durch Verhungern oder durch sich ausbreitende Krankheiten entgegen:
Erdbeben-Überlebende erfrieren in Nepal
In Anbetracht dieser nicht enden wollenden Prüfungen eines so zutiefst gläubigen Volkes dürfen sich, so meine ich, Zweifel an der „Gutmütigkeit“ oder auch an der schieren Existenz von Gott & Co. erheben. Oder haben die Nepalesen vielleicht bloß eine falsche Religiosität gelebt, für die sich nun der tatsächliche und einzig wahre Weltenlenker bitterlich rächt? Auch diese durchaus denkbare Vorstellung eines rachsüchtigen Überwesens stimmt mich nicht unbedingt zuversichtlich.
Wenn ich ein Mann wäre, so hätte Goethes Gretchen auch zu mir die berühmten Worte sagen können:
Nun sag, wie hast du’s mit der Religion? Du bist ein herzlich guter Mann, allein ich glaub, du hältst nicht viel davon.
Wo Gretchen Recht hat, hat sie Recht.
– Carina Collany –
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