Hygiene macht krank
Als ich noch ein Tomboy war, also ein sehr wildes kleines abgehärtetes Draußenspiel-Mädchen, da verging kein Tag, an dem ich mich nicht beim Spielen oder beim Rumrasen auf die Fresse gelegt hätte. Ich hatte ständig aufgescheuerte Knie in allen Heilungsstadien, von frisch blutig bis Schorf abgepult blutig bis zartrosa neubehautet. Heftpflaster mochte ich nicht, die hielten bei mir eh nicht lange und ziepten immer so fies beim Abzoppeln. So kam ich immer herrlich dreckig und verkrustet vom Spielen nach Hause, und beim unfreiwilligen Küssen des Mutterbodens dürfte ich auch so einiges an Kompost & Co. gefressen haben. Kurzum: Ich hatte eine sehr bewegte Kindheit, die ich entsprechend genossen habe. Was ich dagegen nicht hatte, waren Eltern, die mich unter einer luftdicht schließende Käseglocke einsperren wollten. Den Göttern sei Dank dafür. Denn weil ich glücklich im Dreck wühlen durfte, und meinen kindlichen Forscherdrang (inklusive der Untersuchung sämtlicher interessant verrosteter Öffnungen) ungezügelt ausleben konnte, habe ich heute als älter gewordene Frau 😉 weder Asthma noch Heuschnupfen noch irgendwelche Allergien noch sonstigen Ärger mit einem verweichlichten Immunsystem. Meine Hauspolizei ist bestens im Training, und meine Antikörper sind gut drauf. Außerdem kann meine Immunabwehr auf zahllose siegreich geschlagene Schlachten zurückblicken. Und das alles nur, weil ich als junger Feger weder mit Samthandschuhen angefasst noch in Sagrotan ersäuft wurde.
Noch mal DANKE dafür, oh Universum!
Und wie sieht es heute aus?
Hoffnungslos überbehütete und überzüchtete Blagen werden pausenlos in Augenwatte gepackt und in nahezu steril keimfreien Haushalten groß gezogen, in denen selbst der gute alte Meister Propper als schmieriges stinkendes Dreckschwein schon längst vom Hof gejagt worden wäre. Alles blitzt und blinkt im aseptischen Schlachthauscharme einer bakterizid behüteten Behausung, und das lernbegierige Immunsystem gibt langsam, aber sicher, seine gesunde Neugier auf seine natürlichen Feinde auf. Kein Wunder, dass bei so einer schlaff gewordenen Gurkentruppe auch die harmloseste Polle sofort einen absurden Großalarm auslöst. Denn wenn das körpereigene Abwehrsystem nie ausprobieren durfte, was es kann und was es soll und wo ein müdes Durchwinken völlig genügt, dann wird das auch nichts mit angemessenen Immunantworten.
Mich juckt das nicht weiter. Denn ich habe ein wachsames und zuverlässiges Immunsystem mit Erfahrung und Augenmaß. Aber all die ach so zerbrechlichen Kindlein, deren krankhaft überbesorgte Eltern schon beim schieren Anblick eines Krümels Blumenerde auf den kaltweißen Bodenfliesen in Ohnmacht fallen, die haben das nicht. Und darum knicken die schon um, wenn eine belustigte Bakterie nur BUH! macht.
Ich sage Euch: Hygiene, alles gut und schön. Aber bitte in gesunden Maßen. Denn auch ein Immunsystem braucht sein regelmäßiges Training, um fit und auf Zack zu bleiben. Und wer mir das nicht glauben mag (schließlich gilt der Prophet kaum jemals etwas im eigenen Land), der wird sich vielleicht vom sonoren Brustton der Wissenschaft überzeugen lassen:
Joachim Czichos:
Geburtsort Ausland: Immigrantenkinder erkranken seltener an Allergien
Das macht schon irgendwie nachdenklich, nicht wahr?
– Milla Münchhausen (alles außer aseptisch) –
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